2010

DEZ.2010  ZERSTREUUNG

Ich laufe in den Schuppen – Streusand holen. Dieser Winter geht mir schon jetzt gewaltig aufs Gemüt. Dabei ist es kalendarisch nicht mal Winter. Als Eigenheimbesitzer gehört Schnee nicht zu meinen favorisierten Wetterlagen. Morgens fegen, mittags fegen, abends fegen – zwischendurch streuen. Also wo ist der verflixte Streusand. Na gucke mal, was liegt denn da? Eine Ventilkappe, was hat die denn hier verloren? Am besten, ich steck sie gleich wieder auf bevor ich’s vergesse. Hallo Hase (ich spreche mit meinen Fahrzeugen), wie läufts? Apropos, da könnte ich doch auch schnell noch die Batterie ausbauen. Wo ist der Schraubendreher? Ach, na so was – wie kommt der denn hierher? Den suche ich doch schon seit Monaten. Dann kann ich ja endlich mal das Loch bohren und Muttis Konterfei aufhängen. Wo hatte ich noch gleich die Dübel liegen? Keller – im Keller müssten sie sein. Da nehm ich mal gleich noch die Wäsche mit runter. Keine Leerfahrten! Oha! Was ist hier denn los? Weberknechtaufzuchtstation, herje. Ohne Staubsauger geh ich keinen Schritt in diese Flusenhölle. Der Sauger steht gleich unter der Bodentreppe, so wie meine alte Gitarre. Könnte auch mal wieder gestimmt werden, die Gute. Wo ist eigentlich die Stimmgabel? Die hab ich ja auch schon seit hundert Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht in der großen Krimskrams-Kiste unter dem Bett. Oooch, wie süß, mein Kinderfotoalbum. Hihi, schau mal, Schatzi, mit Gleitschuhen… was hast du denn da im Gesicht, soll ich den mal ausdrücken? Warte ich hol Taschentücher. Weißt du noch, mit den Lederriemen und verstellbar. Musste man immer einen Schraubendreher dabei haben. Die Batterie leg ich am besten irgendwo hin, wo ich sie im Frühjahr auch sicher wiederfinde. Hinter den Vorhang im Flur – aah, da ist er ja, der Sand. Wow, bin ich aber fit heute. Das flutscht ja. Staubgesaugt, Moped gestreichelt, Bild angebaut, Gitarre gestimmt, Wäsche gewaschen, Schatzi glücklich gemacht, und das alles vorm Frühstück. Wahnsinn. Jetzt muß ich nur noch die Gleitschuhe finden. Die sind bestimmt auf dem Dachboden, da wo auch Skier und Schlitten stehen und die Kuckucksuhr von Papa. Ups, schon 9.30 Uhr, ich sollte mal langsam los ins Büro, der Kollege wollte mir heute den Ducksong vorsingen. Was das wohl bedeutet? Huiii, der Wind reißt mir die Tür aus der Hand – Schneeeeeeeeeeeeeeesturm. Ich liebe dieses Wetter!

 

NOV.2010  HAB ICH MICH VERJAGT

Habt Ihr auch manchmal dieses barbarische Zucken in den Beinen, dieses Gefühl von Voodoo im Bauch, dieses unkontrollierbare Verlangen nach Fleisch? Ich jedenfalls bemerke in letzter Zeit häufiger, dass die Urinstinkte mit mir durchgehen. Nein – ich rede hier nicht vom Essen roher Leber sondern von unkontrollierbaren Reflexen. Neulich war ich mal wieder mit dem Rad im Unterholz unterwegs, als mich ein Adrenalinschub aus dem Sattel kickte. Eine Klapperschlange! Hilfe, eine Klapperschlange! Kurz darauf setzt mein Verstand ein – eine Klapperschlange – hier – unmöglich! Komm wieder runter. Okay, okay, aber was hat mich dann so erschreckt? Es war ein lapales trockenes Blatt, dass sich zwischen Rahmen und Reifen verfangen hatte und rasselnde Geräusche von sich gab. Überhaupt, scheinen meine Vorfahren im Tal des Todes gelebt zu haben. Letzten Herbst nämlich – jetzt fällt es mir wieder ein – hatte ich auch so ein Erlebnis. Da schoss plötzlich eine Schlange aus dem Laub und ich wie eine Gazelle 2 meter nach oben und dann links in ein Klettengebüsch. Als ich mich wieder entstrüppt hatte und nach der „Schlange“ suchte, fand ich nur einen langen krummen Stock und einen Hund der am anderen Ende draufgelatscht war. Schon damals habe ich mich selbst überrascht. Beim Schulsport erreichte ich nie derartige Höhen und Weiten. Aber das ist noch nicht alles. Schreiende Kinder lösen in mir unwillkürlich einen Sprint aus. In weniger als 10 Sekunden aus der Hörweite. Und jeden Herbst dieser unbändige Appetit auf Äpfel. Und diese Lust auf … Wenn ich es mir recht überlege … der Baum der Erkenntnis: die Sache mit Adam, Eva und der Schlange, dem Apfel und den Blättern muss im Oktober gewesen sein. Also hat Gott die Welt Ende September erschaffen, was aber nicht mein Schlangenproblem erklärt. Dabei mag ich Schlangen. Diese langen windigen Urviecher. Erst letzten Samstag habe ich einer Blindschleiche über die Straße geholfen. So jedenfalls erklärte ich dem netten Beamten in Uniform meine Schlangenlinien. Ja ich weiß, Blindschleichen sind KEINE Schlangen. Deshalb erhielt ich auch nur eine Verwarnung anstatt der 3 Punkte. Die Schlangenlinien kamen übrigens vom Sammeln. Auch so eine urzeitliche Hinterlassenschaft. Zur Zeit sammle ich Glühweinstempel. Für 10 gibt’s einen gratis – sogar mit Schlangestehen.

 

OKT.2010  BLENDWERK

„Ich wusste ja gar nicht, dass du rauchst …“  „Ähm, tu ich auch nicht.“ „Ich kauf die bloß, weil mir die Schachtel so gefällt” höre die Worte aus meinem Mund kullern und lach mich selber aus. Wenn das eine Ausrede wäre, wäre es nicht die allerbeste. Und das schlimmste ist, morgen wird mir mein Kollege erzählen, dass sein Nachbar mich beim Kauf dieser Dinger gesehen hat und dass er sehr enttäuscht ist von mir, weil er dachte, ich wäre nicht soo eine … Dabei gefällt sie mir wirklich. Die Verpackung. Ich habe das Päckchen gestern auf dem Heimweg auf einem dieser Riesenplakate gesehen und bin heute extra deswegen in einen dieser Läden gegangen. Ausnahmsweise. Bin sogar in einen der äußeren Stadtteile gefahren, damit mich niemand dabei erwischt. Ich habe eine Perücke dabei und eine schwarze blickdichte Tüte – eine mattschwarze mit glänzendem Schriftzug (auch in schwarz). Ich streiche mit dem Finger über die Kante zwischen matt und glanz. JAAAAA …, ein schööönes Gefühüül. Und JA, ich packe aus: Ich bin Fetischist. Es ist nicht das erste Mal, und ich muss mich immer wieder zügeln, Dinge zu erwerben, bloß weil sie schön eingewickelt sind. Nein, ich brauche sie nicht, nein nein nein … und vor allem: Ich brauche sie nicht auszupacken. Ich kaufe das iPhone nur weil es diese gefällige mattweiße Schachtel hat. Und auch das Parfum letzte Woche – keine Ahnung wie es riecht – aber es ist wunderbar eingehüllt in eine dunkelgraue schwere Box mit rosa Akzenten. Bücher kaufe ich nur wegen des Einbandes, Schuhe wegen des Kartons – der Inhalt ist mir wurschtegal. Selbst bei Lebensmitteln mache ich keine Ausnahme. Ich kaufe mir die teuren Nussplätzchen, weil sie mich aus dem Regal anmachen in ihrer Aufmachung. Allergie hin oder her, Haltbarkeitsdatum – ich sch*** drauf … Hauptsache sie wandern in meinem Tütchen zu mir nach Hause, das proppenvoll ist mit Verpackungsschnickschnack. Manchmal sonntags dann – nehme ich sie, befreie sie vom Staub, berühre sie ganz zart, genieße die Haptik, ergötze mich an Gravuren, Stanzungen und partiellen Lackierungen. Ja, ich bin besessen. Ich bin ein Knecht meiner Sinne. Aber ich weiß – ich bin nicht allein. Gottseidank kam letztens diese Sendung im Öffentlich-Rechtlichen über Ebay. Da werden Verpackungen ohne Inhalt angeboten, iPhones und so. Aber mal ehrlich: wer kauft denn sowas?

 

SEPT.2010  TORSCHLUSSTRIEB

„Wenn Sie da vorne in der ersten Reihe sich nicht bewegen – wird es keiner tun!“  „If you are dead, please leave and take a espresso at the bar“ „Stand up, if you have legs”, mit Akzent und französischer Leichtigkeit versucht der Entertainer nach einer halben Stunde verdammt guter Show die Massen doch noch zum Feiern zu mobilisieren. Und dann noch einmal sehr eindeutig: „Old men – please go home sleeping“. Die Band bespielt sich selbst. Das Publikum SITZT mit leuchtenden Gesichter und wippenden Füßen zwar – aber das änderst ja nichts – 20 Meter vor der Bühne. Dazwischen ein Loch. Ein Krater. Ein toter Raum. Ich warte. Der Sänger sagt den letzten Song an und dann passiert es: Sie kriegen Panik „Ohje“ mit den Armen fuchtelnd „ohje, ohje … der letzte …, und ich habe noch gar nicht getanzt“ treten sie zaghaft und wackelnd an die Bühne. Und dann ist es mit einem Schlag rammelvoll und alle tanzen und jumpen was das Zeug hält. HÄÄÄ?? Die Band reißt sich am Schlüpper und spielt unverdienterweise zwei Zugaben. WAS IST DA LOS???? Das gleiche Schauspiel im Supermarkt. Häppchenhilde bietet Probierleckerlis an. „Möchten Sie auch einen GRATIS-Joghurt probieren?“ „Iiiich?? NEIN!!!!! Ich hab’s eilig und ich esse auch gar keinen Joghurt.“ Findet sich allerdings NUR EINER, der das Angebot annimmt – RUMMS! – steht plötzlich der ganze Laden bei Hilde am Counter und will Happen. Diese Mischung aus Torschlusspanik und Herdentrieb ist werbetechnisch ein echter Katalysator. Was beim Matratzenoutlet (365-Tage-Sale – nur heute 100% Nachlass auf alles) längst keinen mehr lockt, könnte in anderen Marktsegmenten noch prima funktionieren. Man stelle sich vor, Facebook z.B. würde ansagen: Nur noch 100 Rest-Accounts zu vergeben. Was wäre denn dann bitte schön los? Millionen würden fließen. Sagte man allerdings: nur noch 100 Rest-Accounts zu vergeben – abzuholen in Klein Groß (bei Rostock) – wären allerhöchstens die 50 Einwohner von Klein Groß zur Stelle. Hier kollidiert der Torschlusstrieb mit der Arschhochfäule. Testen könnte Frau M. in diesem Zusammenhang, ob Arschhochfäule eine deutsche Tugend ist. Und wenn Sie schon dabei sind, Frau M., kombinieren Sie es doch mit der Behebung aller unserer finanziellen Sorgen: „Deutsche Staatsbürgerschaft – nur noch heute möglich!! Der Geldbeutel entscheidet“.

 

AUG.2010  BACK TO THE KITCHEN

Jetzt fühle ich mich auch verkannt, Herr Panse. Ich bin weder egoistisch noch Verbreiter übler Gerüche. Ich dosiere die Wasserkocherwassermenge, stelle die angebrochene Milch nicht zurück in den Kühlschrank, setze keine freundlichen Töpfe auf UND lasse das Licht in der Küche brennen (ich benutze daheim übrigens vorzugsweise Glühbirnen der alten Schule, Klasse 1B – wegen der Romantik! Da fällt mir ein – die gibts nicht mehr lange. Notiere: heute noch Glühbirnen auf Vorrat kaufen! 2 Lichtquellen/Zimmer x 5 Räume x durchschnittliche Lebensdauer/Birne x Lebensdauer/ICH minus aktueller Bestand plus prozentual steigende Nutzdauer/Tag durch Verdunkelung der Sonne (weil mal wieder ein Vulkan auf Island ausgebrochen ist oder die Nachbarin am Fenster vorbei läuft) plusminus 5 Ersatzbirnen = ich sollte einen Einkaufswagen nehmen), wenn ich weiß, dass ich in 5 Minuten zurückkommen werde, um den Kaffee aufzugießen … Außerdem betätige ich bei Pipi nicht die Klospülung sondern erst wenn es sich „lohnt“, benutze Stofftaschentücher bis sie hart sind, dusche kalt (trage dabei allerdings Wollsocken), boykottiere sämtliche Standby-Tasten, öffne die Tiefkühltruhe bei Kaufland erst NACHDEM ich weiß, was ich herausnehmen will, fahre mein Auto mit 20km/h im vierten Gang, helfe meinem Freund beim Jogurtbecherhorten, heize mir selber ein und immer nur den Raum den ich einnehme. Ich bin Recycleprofi (und damit genaues Gegenteil von meinem Schnuckiputzi) Wiederkaugummiverwender, Sonnenölwechselselbermacher, Reiskocherbesitzer (in 1 Sack Reis steckt nämlich nur halb soviel Energie wie in 2) und Befürworter der Mehrwegsteuer (man berechne nur, wieviel Treibstoff da besteuert werden könnte. Unsinniges Umherfahren gehört verboten!) … lasse nichts anbrennen und ich trage essbare Unterwäsche – alles um die Ressourcen zu schonen und die Weltmächte beim Energiesparen zu unterstützen. Die Weltmächte? Mein lieber Herr Panse, als Konsequenz kann ich nur allen Sichverkanntfühlenden empfehlen: Energie-aus-reis-e-Paß beantragen und einen Chinesen heiraten. Aus meiner Sicht hätte das fast nur Vorteile: Ich könnte soviel Energie verplempern, wie ich wollte, meinen Reis ohne Umweg kochen lassen, den gelben Fluß in meinem Abort stauen und ich könnte meinen Nachnamen aufpimpen. Guten Tag Frau Schmidt-Chen, haben Sie bei Ihrem Einkauf alles gefunden? Nein. Die Glühbirnen sind aus!

 

JULI.2010  SCHLAFES SCHWESTER

PIEP!!!!!… PIEP PIEP PIEP!!!!!… PIEP … Wo bin ich? Wer bin ich? Und warum ist es so dunkel? Geweckt werden ist eine der unerfreulichsten Angelegenheiten die ich kenne. Unangenehmer ist nur noch das Geweckt-werden-bevor-die-Sonne-aufgeht. Mürrisch trotte ich ins Bad, reiße mit der Zahnbürste in der Hand das Fenster auf … aaarhaaaaarhhhhgrmpfschluck … und werde beim Anblick des Morgenhimmels samt Vogelgezwitscher und Frischluftdoping in einen wahren Zähneputzrausch katapultiert. Ich putze mich in Trance und dann … dann … der Gipfel der Erleuchtung: „Man müßte sie besser nutzen – die Stunden des frühen Morgens und späten Abends.“ Ich verneige mich vor dem Klosett und spucke die inzwischen rosa Soße in die Schüssel, „…und zwischendurch ein gepflegtes Mittagschläfchen.“ – „DAS passiert Dir noch früh genug, dass du Nachts nicht schlafen kannst.“ holt mich mein Kollege unsanft aus der Extase. „Senile Bettflucht nennt man das. Haben alle alten Leute.“ Stimmt. Mein Opi hing auch schon ab 4 Uhr früh aus dem Fenster und „beobachtete die Zeit“ wie er es immer nannte. Kann man Zeit eigentlich kompensieren? Habe ich im Alter mehr Schlaf übrig wenn ich in der Jugend weniger …? Wahrscheinlich hat Opi mit 25 immer in den Puppen… bis in die Puppen im Bett gelegen und hat so 90% seiner von „daoben“-vorgesehenen Schlafenszeit schon unter 30 verquackert. Omi dagegen schläft immer bis sieben. Da weiß man ja, was sie als Puppe damals getrieben hat. Eine Jute – meine Omi. Immer adrett, immer sauber, immer früh im Bett und morgens früh auf der Post – stempeln! Aber ich schweife ab … Frühmorgens wenn die Luft noch sauerstoffhaltig, das Wasser noch frisch und die Wege noch unbenutzt sind – wäre ich die erste am Hundeklo, hätte um 7 mein Trainingspensum geschafft, um 9 schon alle Dringlichkeiten erledigt und wäre 13 Uhr fertig mit allem. Abends würde ich dann in die rote Sonne radeln und mit dem letzten Hell des Tages nach Hause kommen wo Mann und Griesklösschensuppe warten. Ach jaaaa … Später – viel später – hätte ich dann nicht das Problem, dass ich 21 Stunden vom Tag mit Nordic Walking und Arztterminen füllen müsste. Ich wäre die einzige Omi in der Residenz, die ohne Schlaftabletten von 22 bis 9 Uhr durchratzt. Der Neid der Alten wäre mir sicher. Kinder, laßt die Puppen tanzen bis der Himmel glüht… und wenn ihr beim Nachhausekommen Nachbars Opi aus dem Fenster glotzen seht, könnt ihr getrost ins Bettchen gehen: der frühe Vogel fängt zwar den Wurm – aber erst die zweite Maus kriegt den Käse…

 

JUNI.2010  DIE KUNST DES IGNORIERENS

Määäääääähhhhh, määääähhhhhhhhh, mähhhhhhhhhhhhhhh…. so eine kleine 4×4-Meter-Wiese hat es in sich. Nicht nur die 16 m², die zu mähen sind. Man vergesse nicht die 16 Meter Rasenkanten, die getrimmt und die Millionen Steine, die abgesammelt werden wollen. Löwenzähne abstechen, Kleeblätter begutachten, Regenwürmer retten und und und … besondere Freude bereiten mir dann Menschen, die minutenlang mit halbgeöffnetem Gesicht an meiner Hecke stehen, auf den Moment harrend, an dem ich kurz aufblicke, um mir dann ein Gespräch aufs Auge zu drücken: „Frrrau Schmidt…. sie sind ja heute wieder fleißig“ nein – verbiete ich mir zu sagen, Fleiß setzt eigenen Antrieb voraus – die Höhe der Halme multipliziert mit dem Wissen, dass der Mäher schon morgen keine Chance mehr hat, diesen Wuchs zu bewältigen und die Vorstellung, dass ich dann mit der Sense … zwingt mich dazu. mmmmmääähhhh …. „Iiiich müsste ja auch mal wieder …“ dann mach es doch, du …, meine Zunge zwirbelt sich zu einem H wie Horst und dann wäre es beinahe passiert. Fast hätte ich den Fehler aller Fehler begangen, den superbug, el error fatal, le fauxpas grande. Um ein Haar hätte ich reagiert. Ich zwinge mich, konzentriert zu bleiben. Nicht hinsehen! Nicht antworten! Nicht beachten! Eines habe ich in den 20 Jahren Erdendasein gelernt, man hat mehr Spaß wenn man diese eine simple Regel befolgt: Ignoriere, wenn du kannst! Nicht nur Nachbarn hält man sich so vom Leibe. Auch plappernde Kinder kratzen nach einigen Minuten Linksliegenlassens die Kurve und suchen sich ein neues Opfer. Hunden darf sowieso niemals Beachtung geschenkt werden, da sie jedes Anblicken mit Frechheiten ihrerseits honorieren. Auch alltägliche Aktivitäten können durch Ignoranz aufgewertet werden. Es macht z.B. mehr Freude, im Barleber See baden zu gehen, wenn man die Tatsache ignoriert, dass unter einem zwei Meter große Hechte schwimmen und am Badestrand gegenüber Herr Krause gerade ins Wasser schifft. Heute lebt es sich wesentlich beschwingter mit der Verdrängung des Fakts, dass Oma morgen 90 wird und man noch kein Geschenk hat. Tante Trutchens Anruf zu ignorieren, erspart die Einladung zum Kaffee. Blinkende Warnleuchten jeglicher Art – nicht hinsehen! Komische Geräusche bei technischen Geräten – nicht beachten! Und daß das leckere gegrillte Lammfleisch auf deinem Teller heute früh noch glücklich über eine Blumenwiese gehopst ist – einfach ignorieren … määäähhhh!

 

MAI.2010  GOOGLE NEIGHBOUR

Suchst du die Harke?“ Verdammt, sehe ich aus als ob ich eine Harke suche? Und woher weiß DIE das schon wieder. DIE steht auf der anderen Seite der Hecke und zeigt mit dem Finger in meine Garage „Die Harke steht da hinten bei den Eimern. Eigentlich stand sie immer zwischen Spaten und Besen. Aber seit kurzem …“ schnattert sie weiter. Grübelnd antworte ich schnell „Ja, danke, wenn ich Sie nicht hätte.“ Ich Sieze meine Nachbarn generell um jedes Aufkeimen von Vertrautheit im Keim zu ersticken. Allerdings haben sie das noch nicht bemerkt. Nachbarn sind schon ein seltsames Völkchen. Dabei ist es völlig unerheblich, ob es sich um Garten-, Wohnungs- oder Banknachbarn handelt, eines verbindet sie alle: ein unglaubliches Wissen über mich und meine Privatsphäre. Die eine überraschte mich neulich mit der Aussage, dass mein Keller ja viel aufgeräumter wäre als ihrer. Ja, das könne ich nicht einschätzen, da ich ihren nicht kenne. „Doch doch … viel ordentlicher!!“ Hmm, ja…„Und die Pflanze in deiner Küche müsstest du mal wieder gießen, die links neben der Tür zum Bad.“ Links? Ich berechne schnell den Winkel und kombiniere, dass sie an dieses Wissen nur durch einen Blick mit dem Fernglas aus ihrem Schlafzimmerfenster oder durch außerirdische Mächte gekommen sein kann. Nachbarn haben kein Eigenleben. Sie existieren ausschließlich durch Teilnahme an der Gemeinschaft. „Da stand die ganze Woche ein Auto auf DEINEM Parkplatz. Keinen Millimeter hat sich’s bewegt, die ganze Woche nicht, ich wollte schon die Polizei rufen… auf D E I N E M Parkplatz.“ Achso, ja … das ist das Auto von meinem Freund! „Ach von dem aus Dessau.“ Jaa??? „Der, mit dem Sohn aus erster Ehe. Mit dem warst du doch grade im Urlaub auf Rügen, oder? War’s denn schön???“ Na, nun wird’s mir aber zu bunt. Wo haben DIE bloß die ganzen Informationen her? Dann wissen DIE ja auch, dass ich Weltmeister im Nasebohren bin und höchstwahrscheinlich haben sie die Fotos aus meinem Urlaub schon auf der letzten Laubenpieper-Vereinsversammlung über Polylux an die Wand geworfen. Ich lasse die Rollos herunter, nehme meinen Sparstrumpf aus dem Blumentopf neben der Badtür und überprüfe mein gesamtes Haus auf Wanzen und Mikrokameras. Erst in meinem Bett werde ich fündig. Wirklich sehr lästig diese kleinen Viecher. Fehlt ja bloß noch, dass sie mir irgendwann durch das kleine Klofenster eine Rolle rein reichen „War doch GROSS, oder?“

 

APR.2010  ANSTOSS

Endlich – der Frühling ist da und mit ihm Millionen Menschen, die sich über die Osterfeiertage in einer Art Aufwachphase aus dem Winterschlaf zu befinden scheinen. Egal ob minus 80 Grad oder blauer Himmel Sonnenschein – Tausende frisch Aufgetaute rennen unkontrolliert durch Parks und Grünanlagen, als stünden sie noch unter Kälteschock. Schwierig wird es in diesem Zustand vor allem dann, wenn es in den Gegenverkehr geht. Ausweichen? Wie ging das noch gleich? Gucken, blinken, rüberziehen? Ach nein – als Fußgänger bleibt man jetzt am besten ganz ruhig auf seiner Position und vor allem: zusammen! Was wintersüber nur in Schwimmhallen, auf Bolzplätzen und im Schwarzen Block zu beobachten ist, wird jetzt endlich wieder Volkssport: die Viererkette. Bei sämtlichen Angriffsaktionen des Gegenverkehrs verschiebt sich die Formation objektorientiert (heißt: man steuert immer direkt auf das Zentrum der Kette zu). Das Abwehrsystem ist sehr komplex und stellt hohe Anforderungen an jeden einzelnen Spieler. Er muss gleichzeitig auf den Gegenspieler achten, die Spielsituation beobachten und die eigenen Mitspieler der Kette im Blick behalten. Die Viererkette wird meist mit Raumdeckung gespielt. Ziel ist es, den Gegenverkehr zum Stillstand oder zum Verlassen des Spielfeldes (Fußweg) zu bringen. Gelingt es diesem wider Erwarten doch, in den eigenen Spielraum vorzudringen, ist oft die sogenannte „Taube“ eine erfolgversprechende Taktik. Man tut einfach so, als würde man ihn nicht bemerken und schnattert was das Zeug hält mit seinem Nebenmann. Möglichst unauffällig (damit man nicht als „lose“ eingestuft wird) wartet man ab bis der Gegenspieler direkt vor einem steht. Dann erschreckt man sich fürchterlich, springt unkoordiniert zur Seite (Fallrückzieher), reißt dabei den von hinten aufgefahrenen, sich just in diesem Moment auf der Grasnarbe (passives Abseits) vorbeiquetschenden Radfahrer mit, verliert seinen Hut und das Sonntagsgesicht – schickt wüste Beschimpfungen in den Äther (an denen man sich aber nicht lange aufhalten kann, weil sich das Geschwader nach kurzem Trudeln wieder gefangen und inzwischen bedrohlich weit entfernt hat) und versucht mittels rudernder Armbewegungen den Anschluss nicht zu verlieren. Der Gegenspieler wechselt in diesem Fall meist einen Blick mit dem aus dem Strafraum kletternden Radfahrer, tippt sich zum Gruß mitten auf die Stirn und geht in die Verlängerung bis zur nächsten Abseitsfalle.